Die Bedürfniswaage (nicht nur) in Coronazeiten


Er konnte die fröhlichen #StayAtHome #ZuhauseBleiben Heimquarantäne-Videos nicht mehr sehen. Er hasste es mittlerweile, ständig von der Familie umgeben zu arbeiten. Er sehnte sich nach der Abgeschiedenheit seines Arbeitsweges, der nüchternen Büroatmosphäre und selbst nach manch unsympathischem Kollegen. Wie sollte er das alles bloß weiter aushalten?

Die Trennung vom gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Leben bringt für Solo-Selbständige und Angestellte ganz unterschiedliche Herausforderungen mit sich. Während Angestellte (bisher noch) grundsätzlich eine Arbeitsstelle und damit ein Einkommen haben, ist bei Selbständigen die Existenznot viel größer. Gleichzeitig sind sie es eher gewohnt, alleine zu arbeiten, während Angestellte oft in einem Gruppenverbund tätig sind. Beide Gruppen müssen auf nicht absehbare Zeit mehr von dem aushalten, was unangenehm für sie ist.

Der schweizerische Paartherapeut Christoph Thomann geht davon aus, dass jeder Mensch vier elementare Grundbedürfnisse hat. Er beschreibt sie als die gegensätzlichen Paare aus Nähe – Distanz sowie Dauer/Struktur – Wechsel. Jeder Mensch braucht von allen vier Bedürfnissen etwas, aber in unterschiedlicher Gewichtung. Ein Mensch hat daher eine Grundprägung, sozusagen eine Bedürfnisheimat.

Die eigenen Bedürfnisse in Balance bringenDie neue Situation erfordert, dass ich mich vielleicht mehr mit Nähe auseinandersetzen muss, als mir lieb ist. Oder dass ich mehr Neues ausprobieren muss, als ich gewöhnlich wage. Das kann am Anfang ganz reizvoll sein, so wie ein Experiment, Urlaub oder Abenteuer. Doch die eigene Grundprägung kann ein Mensch nicht einfach mal so ändern oder ablegen. Es kommt unweigerlich der Punkt, an dem es mir zu viel wird: Zu viel Nähe zur Familie zu Hause; zu viel Distanz von Freunden; zu viel Unsicherheit über die Zukunft; zu oft Spaghetti mit Tomatensoße.

Es kann helfen, wenn ich schaue, welche meiner Bedürfnisse gerade unterversorgt sind: zu wenig „Ich, mein Leben“, weil es zu viel Gemeinsamkeit und Familie gibt? Zu wenig Kontakt zu Kolleg*innen, weil ich zu weit weg im Homeoffice bin? Zu viel Langweile, weil ich zu wenig Inspiration erlebe? Zu viel Unsicherheit, weil ich zu wenig stützende Strukturen erfahre?

Wenn ich erkenne, was mir gerade zu viel wird, kann ich das gegenteilige Bedürfnis nähren und so für Ausgleich sorgen. Ich kann mehr Gewicht auf die Waagschale legen, die gerade zu leicht ist. Zum Beispiel durch eine Auszeit mit Kopfhörer im Schlafzimmer, ganz für mich alleine. Oder mit einem Videochat mit Kollegen bei einer virtuell geteilten Tasse Kaffee.

Es hilft mir, inne zu halten, zu beobachten und anzuschauen, was gerade wirklich mein Bedürfnis ist. Und dann mutig zu handeln, um auch für mich selbst zu sorgen. Für Egoisten gilt: mutig zu handeln und auch für andere zu sorgen.

Charlie Brown: „Someday we will all die, Snoopy!“
Snoopy: „True. But on all the other days we will not.“

Aus einem Peanuts-Comic von Charles M. Schulz


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