Der kleine Junge hatte Mitleid mit dem alten Jahr. Alle waren froh, es los zu sein und keiner wollte es mehr haben. Dabei hatte es sich jeden Tag Mühe gegeben, für jeden das Beste herauszuholen. Und nun wurde es davongejagt mit Krach, Blitz und Donner. Also nahm er es nach dem Feuerwerk mit ins Bett und legte es zu all den anderen Jahren, die dort schon lagen. Denn einer musste sich doch darum kümmern, oder?
Dieser kleiner Junge bin ich gewesen und ich konnte nicht verstehen, wenn die Erwachsenen sagten: „Welch ein Glück ist das Jahr vorbei. Hoffentlich wir das nächste besser!“ Denn ich fand das Jahr immer großartig. Die langen Sommerferien zum Beispiel mit dem Jugendlager im Westerwald. Ach, wie war ich verliebt in Nicole! Oder das neue Fahrrad: endlich eines mit Gangschaltung! Die kulinarischen Höhepunkte im Herbst mit Zwetschgenknödel und einem Kuchen, der so aufwendig war, dass meine Mutter in nur einmal im Jahr buk.
Diese kleinen Glücksmomente hatte ich mir behalten, den Rest vergessen. Im Laufe der Zeit blieb der „Rest“ mehr im Gedächtnis haften, die Glücksmomente rutschten weg und so kam es eines Tages, dass auch ich sagte: „Hoffentlich wird das nächste Jahr besser!“
Glücklicherweise sagte meine Frau in dem Moment: „Ach, aber wir hatten doch auch den Urlaub an der Ostsee. Weißt Du noch? Das Meer war so glatt, das es nahtlos in den Himmel übergegangen wäre, wenn nicht eine dünne gelbe Schicht aus Rapsblütenstaub darüber gelegen hätte.“ Stimmt – und da war auch dieser kleine Laden, in dem wir die lang umschwärmte Keramiktasse für unsere Freundin kauften. Und so fing es an: wie an einer Perlenschnur reihten sich die kleinen Glücksmomente aneinander, wir sprangen vom Sommer zum Frühjahr, vorwärts in den Herbst und zurück zum Winter.
Am Ende stellten wir fest, wie reich das Jahr doch war an Dingen, an die wir uns gerne wieder erinnerten. Damit wir das mit dem Erinnern in Zukunft leichter haben, begannen wir in jenem Jahr, Eintrittskarten, Quittungen oder Handyfotos aufzuheben. Wir wurden so zu Sammlern von Augenblicken, die leicht in Vergessenheit geraten und es gleichzeitig wert sind, weiter in uns zu leben.
Verstehen kann man das Leben nur rückwärts.
Leben muss man es vorwärts.
Sören Kierkegaard (1813 – 1855, dänischer Philosoph)
Eine Antwort zu “2015 – und ab dafür?”
… und eines dieser vielen vergangenen Jahre war besonders reich. Ich erinnere, wie Großmutter -mit dem Gaspedal eines Rennautos der Carrera-Bahn in der Hand- ihren blauen Rennwagen über die Piste jagte, immer am Limit, um mich mit meinem feuerroten Renner zu überholen. Dieses Erlebnis lässt mich bis heute den „Rest“ vergessen…