Die Abschiedsrede der Kollegin fiel kurz aus: „Das Leben ist zu kurz für später!“ Damit traf sie den Nerv vieler Anwesenden, denn im Anschluss gab es viele Gespräche, die alle um die gleiche Frage kreisten: „Welchen Spielraum habe ich für mein Handeln, auch wenn es scheinbar keinen gibt?“
So manche Lebenssituation scheint verfahren zu sein. Auf der Arbeit sieht es so aus, als ob es keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr gäbe, alle Wege nach oben oder vielleicht auch in eine andere Abteilung sehen versperrt aus. In der Beziehung ist scheinbar alles gesagt, alles ausprobiert worden und die Partner fühlen sich unglücklich aneinander gekettet. Von einem Freund/einer Freundin höre ich immer nur die gleiche Leier über das ungerechte Leben, das einfach nur Pech und Schwefel bereit halten würde. Kurz und gut: Alles ist grau und schwarz und man nehme am besten einen Strick und erschieße sich.
Allen Beispielen gleich ist der Eindruck, einer Situation hilflos ausgeliefert zu sein. Es (was immer dieses „es“ auch ist) macht etwas mit mir und ich bin zu arm an Kraft und Möglichkeiten, um selbst etwas zu tun. Willfährige Opferhaltung ist manchmal das Mittel der Wahl, um mit komplizierten und komplexen Situationen fertig zu werden. Diese Opferhaltung vereinfacht das Leben: Ich bin nicht verantwortlich für mein Leben, weil nicht ich Regie im Film meines Lebens führe. Es ist der Weltengeist, der Partner, der Chef, etc. Weil der so ist, wie er ist, bin ich an der Entfaltung meiner Möglichkeit gehindert. Ich könnte mein Ziel erreichen, wenn – ja wenn der Weltengeist, der Partner, der Chef, etc. nur anders wäre! Die Schuld liegt daher nie bei mir selbst, sondern immer bei Dritten.
Dabei übersehe ich, was ich tatsächlich tun könnte. Einmal angenommen, ich bekäme den Auftrag, einen neuen Kühlschrank zu entwickeln. Der einfachste Weg wäre dieser: ich recherchiere die Standardmaße und die technischen Vorgaben. Daraus denke ich mir dann in diesem freiwillig eingeschränkten Rahmen einen neuen Kühlschrank aus. Wenn ich jedoch einmal versuche, eine Stufe tiefer zu gehen, dann wäre die erste Frage: „Was muss ein Kühlschrank können?“. Er muss Lebensmittel frisch halten. Das kann auf diese und jene Arten erfolgen, die jeweils ganz andere Voraussetzungen brauchen und vor allem ganz unbekannte Dimensionen der Umsetzung ermöglichen.
Übertragen auf mein Leben wären tiefergehende Fragen zum Beispiel: Welche Dinge, die mich einschränken und die ich als gegeben hinnehme, sind wirklich unveränderlich? Worauf könnte ich verzichten, sei es auch nur vorübergehend? Was wollte ich schon immer mal in mir leben, mit mir erreichen? Was sind meine absoluten Grenzen?
Diese Fragen weiten den Horizont und lenken den Blick auf bisher nicht wahrgenommene Freiheiten. Sie können mich aus meiner passiven Haltung herausholen und mich aktiv werden lassen. Manchmal steht am Ende der Überlegungen eine Kündigung, manchmal eine Scheidung, manchmal vielleicht aber auch ein Projektauftrag oder ein neuer Umgang in der Partnerschaft.
Ich werde Meister*in meiner Geschicke, wenn ich mich meine Opferhaltung aufgebe.
Man kann die eigenen Grenzen nur feststellen, indem man sie gelegentlich überschreitet. Das gilt für jene, die man sich selbst setzt, ebenso wie für jene, die einem andere setzen.
Josef Broukal (*1946, österreichischer Journalist)