Das neue Jahr begann noch erschreckender als das letzte endete. Überall Bedrohungen! Während er in seiner Wohnung vor dem prasselnden Kaminfeuer saß und ein gutes Glas Rotwein trank, fühlte er sich umzingelt von Kriegsdrohungen, Umweltkatastrophen und Wirtschaftsgefahren. Wie sollte er nur überleben?
Der evolutionär älteste Teil unseres Denkorgans ist das Stammhirn. Direkt von den Nervenzellen aus allen Sinnesorganen gefüttert, leitet es alle Informationen an das limbische System weiter. Ein Rascheln! Lauert da eine Gefahr im Unterholz? Ein Schatten am Wegesrand! Naht da ein Feind? Es horcht auch ständig in unser Innerstes hinein. Ein Zwicken in der Leiste! Verhindert das die Flucht? Alle diese Informationen werden unbewusst wahrgenommen und innerhalb einer Viertelsekunde in „Gefahr oder Nicht-Gefahr“, „Böse oder Gut“, „Kampf oder Flucht“ eingeteilt. Denn das limbische System merkt sich seit der Geburt auch die Umstände (Situation + Reaktion = Ergebnis) und wird lebenslang dazu trainiert, Gefahren abzuschätzen und so Handlungsempfehlungen zu geben. Blitzschnell.
Jede Art von Nachrichten wird über dieses System aufgenommen, unabhängig von der Medienquelle (Podcast, Smartphone, Gerüchteküche). So wird unser Alarmsystem dank bester weltweiter Nachrichtenversorgung stets mit allen Impulsen versorgt, die für eine gediegene Panikstimmung notwendig sind. Dabei gibt es einen Unterschied zwischen dem allgemeinen Bedrohungsempfinden und der tatsächlichen individuellen Gefahrenlage.
Regelmäßig bringen Umfragen an das Tageslicht, dass die persönliche Situation besser eingeschätzt wird als die des Durchschnitts der Gesellschaft. Menschen, die in Deutschland leben, haben im Allgemeinen Zugang zu einer bezahlbaren und obendrein einer der besten Gesundheitsversorgungen der Welt. Sie leben seit mehr als siebzig Jahren in Frieden und sind von Wetterkatastrophen wie Buschbränden von der Größe der östlichen Bundesländer oder Heuschreckenschwärme von der Größe des Saarlandes verschont geblieben. „Bisher!“, ruft hier das Alarmsystem, „Australien ist näher als Du denkst!“
Nutzen wir also das Gehirn, wofür es geschaffen wurde: zum Denken. Denn neben dem Stammhirn gibt es zum Glück die Großhirnrinde (zuständig für logisches und abstraktes Denken) und dort speziell den präfrontalen Kortex. Der ist sowohl mit dem Stammhirn, dem limbischen System als auch der Großhirnrinde verbunden. In dieser Hirnregion sitzen Zeitgefühl und Selbstgefühl, dort werden moralische Urteile gefällt – sowohl über andere als auch über mich selbst. Hier entstehen die sozialen Bindungen zu anderen Menschen. Wenn Sie wissen wollen, wo dieser geniale Allrounder genau ist: er liegt, wo manche Menschen „ein Brett vor dem Kopf haben“ oder spirituelle Menschen das „Dritte Auge“ lokalisieren.
Die Genialität hat jedoch einen entscheidenden Nachteil: sie ist komplex und deshalb langsam, die Verarbeitung im Großhirn dauert ungefähr vier Mal so lange wie im limbischen System. Dann kommt nochmal die Bewertung auf Basis unserer Werte im präfrontalen Kortex hinzu. Die braucht auch Zeit. Wenn also mal wieder Panik im Stammhirn ist, hilft es durchaus, tief durchzuatmen und dem restlichen Gehirn Zeit zu geben, darauf zu reagieren. Denn neben der Emotion braucht es den Verstand, um angemessene Reaktionen zu finden.
Gelassene Panik als Grundzustand
Max Frisch (1911 – 1991, Schweizer Schriftsteller)