Wortlos der Persönlichkeit Raum zur Entfaltung geben


Früher hatte sie große Scheu vor Menschen, sprach kaum und traute sich wenig. Kaum zu glauben, wer sie heute sieht: keck, neugierig und munter plaudernd stiefelt sie durch die Gegend. Ihre Persönlichkeit ist ordentlich gewachsen, obwohl sie keines der vielen aufmunternden Worte verstand, die ihr gesagt wurden. Kann man denn wortlos Mut und Vertrauen wecken?

In diesen Wochen sind die Menschen viel auf engem, manchmal unerträglich engstem, Raum zusammen. Und das länger, als so manchem gut tut und so steigen die Anspannungen an. Böse Worte werden ausgesprochen, Zwang ausgeübt und leider rutscht auch so manche Hand aus: „Wie oft habe ich Dir gesagt …“, „Hörst Du mir eigentlich nicht zu?“, „Wer nicht hören will, der muss fühlen!“ Streit und Gewalt machen die Räume noch enger, als sie ohnehin sind. Wobei mir in solchen Situationen dem Gesagten zu viel Bedeutung beigemessen wird. Denn in nahezu jeder Auseinandersetzung gibt es auch solche Dialoge:

„Das habe ich nicht gesagt!“
„Doch, hast Du!“
„Nein!“
„Wohl!“
„Unsinn!“
„Doch!“

So kann das Ping-Pong Spiel endlos weitergehen. Die „Das habe ich nicht gesagt“-Dialoge haben ihre Ursache überraschend oft in der Diskrepanz zwischen dem Ausgesprochenen und dem Ausdruck der inneren Haltung. Die Augen versprühen Aggressivität während der Mund säuselnd beruhigen will. Oder das Kooperationsangebot fordert in Wirklichkeit herrschsüchtig eine bedingungslose Kapitulation. Sie kennen das vielleicht, wenn Sie vom Gesagten mal wieder kein Wort glauben.

Das Eingangsbeispiel beschreibt Emma. Sie ist kein Mensch, sondern eine Katze aus dem Tierschutz. Sie lebt seit fünf Jahren bei uns und wir wissen wenig über ihre ersten zwei Lebensjahre. So scheu und ängstlich, wie sie zu uns kam, waren es keine guten Erfahrungen. Wir brauchten Wochen, um sie anfassen zu können. Besucher haben sie jahrelang nicht gesehen. Sie war wie ein Blatt im Wind, das zu einem Baum geworden ist.

Auf die innere Haltung kommt es anNatürlich glauben wir Katzenbesitzer, dass sie unsere Worte versteht. Das ist, so viel muss ich mir eingestehen, ausgemachter Blödsinn. Schließlich kommt sie aus Spanien, wir sprechen Deutsch und einen Sprachkurs hat sie meines Wissens nach nie gemacht. Doch sie liest unsere Haltung. Unsere innere Haltung, die sich ausdrückt in: wir gehen in die Knie auf Augenhöhe, wir fassen sie nicht von oben an, wir gehen zur Seite um sie vorbeizulassen, wir öffnen ihre eine Tür zum Schutzraum Schlafzimmer, wir halten sie sanft mit der Hand davon ab auf den Tisch zu klettern. Was immer wir auch dazu sagen, nimmt sie höchstens als Sprachmelodie wahr.

In der unfreiwilligen Isolation zu Hause sind Spannungen und Haltungen hochverdichtet spürbar. Wie wäre es also, weniger zu sagen, zu schimpfen oder zu fordern und mehr wortlos eine friedensstiftende Haltung zu zeigen. Einzuladen und Angebote zu machen? Ein kleines körperliches Stoppsignal zu geben statt gleich die verbale Keule herauszuholen? Raum zu geben durch die Art, wie ich mich im Raum verhalte?

Durch Worte kann der Mensch den anderen selig machen oder zur Verzweiflung treiben.

Sigmund Freud (1856 – 1939, österr. Begründer der Psychoanalyse)


3 Antworten zu “Wortlos der Persönlichkeit Raum zur Entfaltung geben”

  1. Welch treffende Metapher. Danke für diesen Blogbeitrag.
    Die Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Haltung ist entscheidend, ob Menschen einem Menschen vertrauen oder nicht. Häufig ist dies Führungskräften nicht bewusst. Führung durch Haltung. Mit Haltung Teams bewegen. Dazu braucht es weniger Worte als Reflexion und Bewusstsein.

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