Für die Vorstellungsrunde im Seminar sollten alle ein Bild von sich malen. „Na super“, dachte sie. „Wieder so was Kreatives. Und ich kann nicht zeichnen. Damit blamiere ich mich doch gleich zu Beginn.“ Warum hatte sie sich hierfür bloß angemeldet?
Für Kinder wäre diese Seminaraufgabe ein Klacks. Die malen einfach drauf los – zumindest bis zu dem Alter, in dem sie von Erwachsenen gesagt bekommen, wie etwas auszusehen habe. „So sieht doch aber kein Haus aus!“ oder „Die Omi hat doch ganz andere Haare!“ Mit jedem dieser Sätze wird ein Stück Freiheit und Kreativität erstickt. Kinder lernen, dass sie bestimmte Dinge und Formen aufs Blatt bringen sollen. Und weil sie bei einigen Bildern auch gelobt werden („Das ist aber schön geworden!“), lernen sie diese fremden Erwartungen besonders gut zu erfüllen. Das ist die Geburtsstunde des kleinen Perfektionisten in ihnen. Der wird sie von nun an ihr ganzes Leben begleiten und peinlichst genau darauf achten, alles gut zu machen.
Vielleicht erinnern sich manche an „Die kleine Hexe“ von Ottfried Preußler. In diesem Kinderbuch will eine kleine Hexe zur Walpurgisnachtfeier der großen Hexen. Weil sie gerade mal 127 Jahre alt ist (und das ist ja für eine Hexe noch gar kein Alter), darf sie noch nichtfeiern. Heimlich schleicht sie sich auf den Blocksberg und wird erwischt. Die großen Hexen verlangen eine Bestrafung, doch wenn sie in einem Jahr eine gute Hexe geworden ist, darf sie mit ihnen um das Hexenfeuer tanzen. Ihr treuer Rabe Abraxas erinnert sie nun bei vielen Gelegenheiten daran, dass sie eine „gute“ Hexe werden muss. Also hilft sie armen Mädchen, frierenden Marktleuten und alten Frauen gegen herzlose Oberförster oder grobe Bierkutscher. Doch das ist leider genau das Gegenteil von dem „Gut“, das die alten Hexen meinten: Statt zu helfen, hätte sie gemein zu den Leuten sein sollen.
Es geht mir um Erwartungen an die zu erbringenden Leistungen. Wenn der Trainer an den Seminarbeginn ein Bild setzt, dann will er unter den Teilnehmenden keine Da Vincis oder Frida Kahlos entdecken, sondern er will Raum geben für Freiheit. Die Surrealisten hatten dafür den Begriff des „automatisierten Zeichnens“ oder „automatisierten Schreibens“ geprägt: etwas auf Papier zu bringen, ohne sich den Vorgaben von Proportionen oder Orthographie zu unterwerfen, um so den kreativen Prozess ungestört laufen zu lassen.
Auch für den Seminarleiter geht es vom Müssen hin zum Dürfen: Er lädt die Teilnehmenden ein, zuzulassen, dass etwas nicht perfekt wird. Er will Freude am Ausprobieren wecken und Lust am Entdecken. Dabei entstehen durch Zufall Erkenntnisse, die im drögen Lehrstoff zwar theoretisch enthalten sind, die aber nur durch Erleben gelernt werden. Und erst in dieser Freiheit des Erlebens und Tuns kann Kreativität leben und es ein gelungenes Seminar werden.
Kindheit und Genialität haben denselben Grundimpuls: Neugier
Sprichwort