Grau und trübe ist der November und wie das Wetter, so die Stimmung. Wieder einmal jagen die Corona-Werte neue Höchststände und verschärfte Abstandsregeln werden erlassen. Gleichzeitig sollen alle Aufgaben auf der Arbeit termingerecht erledigt werden. Doch wie soll er bei alledem jetzt durchhalten?
Im Laufe der letzten Wochen habe ich einen Anteil in mir entdeckt, der eine brutale Freude daran hat, Aufgabe für Aufgabe abzuarbeiten. Nein, nicht wirklich abzuarbeiten, viel mehr: abzuschießen. Final zu erledigen. Er vereint Disziplin mit dem Habitus (Haltung und äußerliche Erscheinung) von Arnold Schwarzeneggers Filmrolle „Terminator“. Daher sein Name: Disziplinator. Mit einem „Hasta la vista, baby!“ bearbeitet er eine Mail und schießt sie dann mit seinem Gewehr ab: „Wumm!“ Die Präsentation ist fertig: „Hasta la vista, baby!“ Wumm! Die vierstündige Abteilungssitzung? Wumm! Am Ende des Tages pflastern erledigte Aufgaben seinen Weg. Dann setzt er sich auf sein Motorrad und fährt in den Sonnenuntergang, eine ordentliche Auspuffwolke hinter sich herziehend. Es ist unglaublich, was der Disziplinator gewuppt bekommt.
Was dieser Wegschaffer partout (also überhaupt) nicht ausstehen kann, sind Motivationssätze wie „Wir sind alle eine große Familie. Deshalb ist auch diese Herausforderung eine Chance und wir werden sie gemeinsam meistern.“ Seine Antwort darauf: Wumm! Hier geht es nicht um Spaß bei der Arbeit, sondern um durchkommen, es geht um‘s Überleben. Denn im Angesicht der kommenden Wochen ist es nicht mit Spaß getan. Den hat einfach keiner mehr. Keine Eltern schulpflichtiger Sprösslinge, keine Pflegekräfte in Krankenhäusern, keine Kulturschaffenden im Angesicht der drohenden Privatinsolvenz.
Allerdings ist der Disziplinator im Außenkontakt, sagen wir, etwas zu robust. Da braucht es eine geschmeidigere Darstellung. Die sollte aber weder nörgelnd sein noch schleimig die Realitäten verkennen. Kübra Gümüşay beschreibt die notwendige Einstellung so: „Die Welt von unten zu betrachten. Von ganz unten. Machlosigkeit und Kraftlosigkeit zu spüren, die Abwesenheit von Möglichkeiten, die Unerreichbarkeit von Dingen zu spüren – und auszuhalten.“ Das ist nicht negativ gemeint, sondern eine Form der Freiheit: „Das besonnene Wahrnehmen einer Situation, der ein Mensch ausgesetzt ist. Eine emanzipierte Akzeptanz der Umstände des Lebens. Keine demütigende Unterlegenheit, sondern respektvolle Achtung.“ Viel Worte im Deutschen, für das im Türkischen eines reicht: aciziyet.
Wenn ich aciziyet mit dem Diszlipinator verbinde, habe ich zwei Handlungsmöglichkeiten, zwei Optionen, um dem drohenden Dauerfrust der kommenden Wochen zu entkommen.
Trübsal blasen wir wohl alle mitunter, aber Konzerte damit zu geben, ist nicht empfehlenswert.
Aus dem Roman „Wellen“ von Eduard von Keyserling (1855-1918)
Die Zitate von Kübra Gümüşay sind dem Buch „Sprache und Sein“, erschienen 2020 im Hanser-Verlag, auf den Seiten 23 und 24 entnommen.
Eine Antwort zu “Durchhalten mit dem Disziplinator und dank aciziyet”
Toll!