Fremdschämen beim Familientreffen


In manchen Restaurants kann ich mich einfach nicht mehr blicken lassen. Die sind verbrannte Erde. Das liegt nicht an mir, sondern an Ingrid. Das ist die Tochter meiner Cousine Astrid. Astrid lädt immer am 13. Dezember die gesamte Verwandtschaft zum Italiener ein. Ihre Tochter Ingrid hat, um es diplomatisch auszudrücken, einen sehr ausgewählten Geschmack. Ganz undiplomatisch dagegen macht sie den Obern klar, wie ihr Essen bitteschön zu sein habe. Das ganze Restaurant bekommt mit, dass die Antipasti zu kalt, das Salatdressing zu essiglastig und die Pizza zu fettig ist. Ich sitze mit am Tisch und werde immer kleiner. Alle Familienmitglieder schweigen wie ich betreten. Alle Gäste schauen zu uns hinüber, die Ober schwanken zwischen serviler Dienstverrichtung und stolzem Schweigen. Ihre italienische Lockerheit: verbrannt von einer Frau, die sich einfach nicht zu benehmen weiß.

Leider ist Ingrid noch nie Helmut begegnet, das wäre ein Spaß! Dieser Familienfreund meines Schwagers, ist ein, wie man im Hessischen sagt, Muffkopp. Ganze Hochzeiten kann er übellaunig schweigend inmitten der fröhlichen Gästeschar verbringen. Schaufelt sein Essen in sich hinein, dazu die obligatorischen Bier-Schnaps-Kombis. Das lockert nicht seine Zunge, aber seine Hände. Frauen diesseits des Rentenalters tun gut daran, Sicherheitsabstand zu wahren. Gott, ist mir das als Mann peinlich!

Fremdschämen mit Ingrid und HelmutDie beiden sind für mich das Duo Infernale der Übergriffigkeit und Grenzverletzungen. Ich erwische mich, wie ich die von Ingrid niedergemachten Restaurants meide, weil man mich erkennen könnte („Isse der nisch dabei gewäsen mit diese schräckliche Weib?“). Und bei Zusammenkünften mit Helmut versuche ich, ein besonders zuvorkommender Mann gegenüber jeder Frau zu sein – quasi als Ausgleich für ihn.

Da lasse ich mich also tatsächlich von der Ungezogenheit wildfremder Leute in meiner Freiheit einschränken? Ich gebe ihnen eine Macht über mein Verhalten, die ihnen nicht zusteht?

Dabei sind die beiden es doch, die peinlich sind – nicht ich. Doch ich wehre mich nicht, dabei habe ich hier es nicht mit Schergen einer brutalen Diktatur zu tun, sondern nur mit Menschen, gegen die ich mich mit meiner üblichen Höflichkeit nicht zur Wehr setzen kann. Bei den Sketchen von Loriot kann ich mich prächtig amüsieren, die Menschen dort sind auch zum Fremdschämen. Gut, das sind keine Verwandten mit denen ich innerlich „verbunden“ bin. Aber, vielleicht, so überlege ich mir, sollte ich Ingrid und Helmut als meine persönlichen Evelyn Hamann und Vicco von Bülow betrachten? Mit dieser inneren Distanz kann ich dann auch Ingrid und Helmut freundlich, jedoch bestimmt in die Schranken weisen. Damit ich meine Freiheit behalte, dorthin zu gehen, wohin ich will. Ohne Fremdschämen.

Während die Originale leider schon tot sind, werde ich an meinen beiden Komikern noch lange Zeit etwas haben – sie haben nämlich eine Gesundheit wie ein Pferd …

Vorschau

Weihnachten ist die Zeit der Gewissenskonflikte: der Besuch bei den Eltern steht an. Und das bereitet mir schon lange vorher Bauchschmerzen. Wie es mir beim alljährlichen Gewissensbisse-Ritual erging lesen Sie am 28. Dezember. Hier im Blog.


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