Liebende Güte statt „Du liebe Güte!“


Sie war froh, nach so langer Zeit endlich wieder zu Hause zu sein. Allerdings arbeitete in der Küche eine fremde Frau. Und was sollte dieser blöde Verband um ihre Hand? Wütend riss sie ihn ab. „Du liebe Güte, Mutter! Lass ihn dran, wir waren doch gerade deswegen in der Ambulanz gewesen!“ Ambulanz? Wann soll das gewesen sein?

Demenz und Verwirrung gehen Hand in HandIm Kopf von Menschen, die an Alzheimer erkrankt sind, hat die Zeit ihre ordnende Wirkung verloren. Was vor einer Minute, einer Woche oder einem halben Jahrhundert war, ist wie in einem undurchdringlichen Spinnennetz verwoben. Die Zeitgrenzen sind aufgehoben und einem Sog gleich fühlen sich die Menschen in ihre Vergangenheit zurück versetzt. Die Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend sind das einzig Stabile und werden leicht durch Ereignisse aus der Jetzt-Zeit aktiviert.

Angehörige, Freunde und helfendes Personal können sich nie sicher sein, was das Gegenüber noch weiß oder erkennt. Die absolute Spontaneität der an Demenz Erkrankten verlangt ihrer Umgebung alles ab. Und die alten Menschen fühlen sich wie ein kleines Kind behandelt, weil ständig alles anders ist als gedacht, sie ständig kontrolliert werden, ständig korrigiert werden. So sind alle Beteiligten schnell am Ende ihrer Geduld und „Du liebe Güte …“ gehört zum Standardrepertoire der gegenseitigen Vorwürfe.

Es fällt schwer, liebende Güte zu leben, wenn die Mutter ihre eigene Tochter nicht mehr erkennt und Schutzmaßnahmen als Bevormundung angesehen werden. Doch gibt es keinen anderen Weg, als beharrlich und voll nachsichtiger, liebender Güte den Erkrankten zu begegnen. Vielleicht hilft es sich zu verdeutlichen, dass auch der demente Mensch unglücklich über seinen Zustand ist. Dass er verzweifelt versucht, mit Notizen gegen das löchrige Gedächtnis anzukämpfen. Oder die Peinlichkeiten überstehen muss, wenn er sich dabei ertappt hat, wieder etwas ganz Unvernünftiges getan zu haben.

Loslassen bedeutet, das Leben als Leben zu akzeptieren – als etwas nicht Greifbares, als etwas Freies, Spontanes und Grenzenloses.

Zen-Lehre


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