Darf ich Andere in ihr Unglück laufen lassen?


Die Abteilungsleiterin war wie immer in Eile, als der Kollege sie auf dem Flur erwischte und um einen Termin für die Vorbereitung der Strategiepräsentation bat. Komplett ausgebucht sei sie kommenden Wochen, ihr Blick erinnerte ihn an ein gehetztes Reh. Als sie dann noch sagte: „Bitte nicht böse sein, das ist nicht persönlich gemeint!“ kam er ins Grübeln. Wie um alles in der Welt kommt dieser Satz zustande? Er weckte in ihm Mitleid und den Wunsch, zu trösten und zu helfen. Doch wie? Und steht ihm das überhaupt zu?

Manche tanzen gerne auf dem Rand einer KlippeVon Außen betrachtet erscheint es, als ob manche Menschen haarscharf an einer Klippe entlang balancieren, immer kurz vor dem Absturz hinein in einen körperlichen oder psychischen Zusammenbruch.  Möchte ich eingreifen? Darf ich aktiv werden? Oder muss ich gar beschützen?

Die Frage, ob ich eingreifen möchte, ist in der Regel von der Sympathie abhängig, die ich für die andere Person empfinde. Leute, die ich eh nicht leiden kann, lasse ich viel leichter in ihr Unglück laufen als Menschen, denen ich mich nahe oder verbunden fühle.

Die Frage, ob ich eingreifen darf, hängt meiner Meinung nach davon ab, ob ich dazu den Auftrag oder die Erlaubnis habe. Ein Vorgesetzter hat eine Sorgepflicht, die sich oft aus einer Leitidee für Mitarbeiterführung ergibt. Sie ist der Auftrag, Klippengängern eine Rückmeldung zu geben und für ihre Entlastung zu sorgen, so dass sie mehr Abstand zum Steilhang bekommen. Und das unabhängig von etwaiger Sympathie oder Antipathie.

Die Erlaubnis einzugreifen bekommen Außenstehende nur durch die Person selbst, die in der scheinbar kritischen Situation ist. Am ehesten haben die Erlaubnis noch Partner, Freunde und Familie, aber allerwenigsten jedoch Kollegen. Selbst Bekundungen die über das übliche „Sie haben im Moment wirklich viel zu tun“ hinausgehen, können als „übergriffig“ angesehen werden. Denn: ist meine Wahrnehmung gerechtfertigt? Fühlt sich mein Gegenüber denn überhaupt am Klippenrand? Und will mein Gegenüber dazu etwas hören? Und in der Selbstreflektion: Ist mein „Unglücksempfinden“ identisch mit dem Unglücksempfinden des Anderen? Mein Unglück ist schließlich nicht ihr Unglück und ihr Unglück ist nicht mein Unglück.

In der Konsequenz heißt das: ich muss Menschen sehenden Auges in „ihr Unglück“ laufen lassen, wenn ich nicht den Auftrag oder ihre Erlaubnis habe, einzugreifen.

„Takt besteht darin, dass man weiß, wie weit man zu weit gehen darf.“
Jean Cocteau (1889 – 1963), franz. Schriftsteller, Regisseur und Maler.


2 Antworten zu “Darf ich Andere in ihr Unglück laufen lassen?”

  1. Liebe Anna,
    bei Notfällen gebe ich Dir Recht. Es wäre ja sonst „unterlassene Hilfeleistung“. Doch es gibt viele Situationen, die ich als Außenstehende*r aushalten, ertragen muss. Denn mein Gegenüber hat das Recht, selbst Fehler zu machen. Nur mir zu liebe wird sie/er nicht anders handeln. Sie/er will überzeugt, nicht überredet werden.

  2. Übertragen wir die Situation auf das Bild, dass Du selbst dazu gestellt hast: Die Person läuft an der Klippe, ohne zu ahnen, dass sie abzubrechen droht. Doch Du weißt es. Dein Vorgesetzer – Dein Führer! – hat Dir aber verboten oder Dich nicht ausdrücklich angewiesen, den Mensch zu retten, der offensichtlich in Gefahr schwebt.
    Sagst Du auch dann noch: Den muss man in sein Unglück laufen lassen?
    Auch auf die Gefahr hin, dass die Person eine amtlich beauftragte Klippentesterin ist und wir uns lächerlich machen, haben wir die moralische Pflicht, sie vor dem Abgrund zurückzureißen. Aus Humanität.

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