Damit wir uns im Sommer noch in die Augen schauen können


Nach fast zwei Jahren Corona machte er sich Hoffnung auf einen entspannten Sommer. Endlich wieder alte Freunde treffen, feiern gehen und das Virus einfach mal vergessen. Doch er zweifelte: würden sie sich nur als Gegner in Corona-Meinungen begegnen?

Die Pandemie hat in den letzten zwei Jahren nahezu jedes Gespräch bestimmt. Selten kam ein Telefonat oder Treffen ohne Erwähnung des Virus‘ aus. Gefahren und Gegenmaßnahmen wurden teilweise erbittert diskutiert und so manche Freundschaft, manch kollegiale Beziehung zerbrach am unterschiedlichen Umgang mit dem Virus. Plötzlich war die alte Freundin nur noch die Corona-Leugnerin oder ein Schlafschaf, gegenseitig sprachen sich Menschen Sinn und Verstand ab. Die Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas, allenthalben beklagt, hatte im privaten Umfeld ihren Ursprung.

Menschen begegnen sich, nicht VirenJetzt gibt es mehr Hoffnungen als je zuvor, dass „das Schlimmste“ vorbei sei und wir „bald“ wieder ein „normales“ Leben führen können. Doch wie sollen wir einander dann begegnen: sehen wir im Gegenüber noch immer nur das Virus? Oder schaffen wir es, die Differenzen zu überwinden und im Gegenüber einfach einen Menschen zu sehen, die/der den eigenen Weg gegangen ist, mit der Pandemie umzugehen?

Wie ich mich verhalte, hängt davon ab, ob ich mich in einem dunklen Tunnel wähne, ob ich mich hinter Glaswänden fühle, mich abgehängt von der Gesellschaft sehe oder wie verbunden ich mit Menschen bin. Welche Ängste mich lähmten, welche Erfahrungen mich verbitterten, welche Freuden ich erlebte und welche Unterstützung ich bekam.

Wenn wir uns im Sommer wieder begegnen wollen, sollten wir meiner Meinung nach jetzt beginnen, Brücken zu bauen. An einem Beispiel möchte ich das erläutern: Ich versuche eine Freundin nicht zu überreden, ihre Ängste vor einer Impfung über Bord zu werfen; sondern ich akzeptiere ihre Entscheidung und frage empathisch, wie es ihr geht. So wie sie mich in meiner positiven Haltung zu einer Impfung akzeptiert und mich emphatisch fragt, wie es mir geht. Uns beiden ist wichtig, dass wir weiterhin befreundet sind, denn das Leben ist mehr als ein Virus. Wir freuen uns schon richtig auf ein Wiedersehen.

Gleichzeitig kann es Verletzungen gegeben haben, die einen weiteren Kontakt zwischen ehemaligen Freund*innen unmöglich machen. Vielleicht war Corona nur der Auslöser für den Bruch oder hat ihn beschleunigt. Gut möglich, dass unter der Viruslast eine instabile Grundlage für die Freundschaft vollends zerbrach. Auch jetzt ist die/der andere immer noch ein Mensch, die/der als solcher wertgeschätzt werden will.

Der Andersdenkende ist kein Idiot,
er hat sich eben eine andere Wirklichkeit konstruiert.

Paul Watzlawik (1921-2007, Kommunikations-Wissenschaftler, Psychotherapeut, Autor und Philosoph)


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