Wer sagt schon, wie es einem wirklich geht


In der Sitzung der Geschäftsführung ging es wie immer um Umsatzziele, Lieferprobleme und Reduzierung von Kosten. Als ein Mitglied dann den Krieg in der Ukraine ansprach und einige Tränen fließen ließ, trat betretenes Schweigen ein. Und manche dachten: „Gehört das nun wirklich hierher?“

Professionelles Verhalten in Zeiten eines nahen Krieges nach zwei Jahren Leben mit einer globalen Pandemie und einer verheerenden Flutkatastrophe letzten Sommer kann sehr unterschiedlich aussehen. Alle versuchen, so weit wie möglich arbeitsfähig zu bleiben, damit notwendige Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden. Niemandem ist offiziell daran gelegen, einfach aus allem auszusteigen und sich ganz den eigenen Bedürfnissen zu widmen.

Doch tief im Innern fühlen viele Menschen eine große Erschöpfung und Überforderung. Das Bedürfnis nach erholsamem Schlaf ermisst sich für manche weniger in Stunden als in Wochen und die Ratlosigkeit raubt so manchem den letzten Nerv. Im Job gilt es zu performen, also Leistung zu bringen; in der Familie ist Stabilisierung angesagt, für die Kinder, die Partner, die Eltern. Also: Zähne zusammenbeißen und durch!

So wird manchmal Stärke gezeigt, auch wenn sie nicht vorhanden ist. Bricht ein Mensch die Konventionen und zeigt die eigene Verletzlichkeit, Erschütterung oder gar Angst, wird schnell ein Becher Schlagsahne über alles gegossen: „Uns geht es doch ganz gut …“, „Wir haben viel erreicht …“, „Wir können noch mehr erreichen …“ Es gilt der Dreisatz: „Weiter – höher – schneller“. Bitte nicht „Stop – langsamer – zurück“ sagen, das bringt mühsam errichtete Gebäude der Selbsttäuschung ins Wanken.

Erschöpfung im März 2022

Dabei ist es verquer, so zu tun, als hätten wir alles im Griff. Das entspricht weder der Realität noch ist es authentisch. Ein stimmiges Verhalten, das sowohl mir selbst gemäß ist als auch der Situation angemessen ist, würde auch das Äußern von Zweifeln und Ratlosigkeit erlauben. Manche finden das daneben, weil es gerade im Arbeitskontext keinen Platz hätte. Alle mögen sich doch bitte anpassen, also eigene Bedürfnisse hintenanstellen.

Diejenigen, die den Krieg und die damit einhergehenden Belastungen übertünchen, verlieren meiner Meinung nach den Kontakt zum Gegenüber. Wer in der aktuellen Situation angemessen authentisch ist, kann Menschen wirklich erreichen. Ob Tränen dazu gehören, soll allein die Person entscheiden, die sie in sich aufsteigen fühlt.

Mich regt die Tatsache auf, dass sich niemand aufregt.

Dieter Hildebrandt, (1927 – 2013, deutscher Kabarettist)


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