Es scheint eine schwere Krankheit zu geben, die weit verbreitet ist, aber keinen Widerhall in den Medien findet: die Lob-Wahrnehmungs-Störung (LWS-Syndrom). Die daran Erkrankten nehmen Lob in einem doppelten Sinne nicht wahr. Doch oh Schreck! Auch ich spüre schon erste Anzeichen von LWS in mir.
Neulich erzählte mir ein Mann beim Coaching folgende Begebenheit: Er sei freischaffender Künstler und habe „en passant“ beim Wochenendeinkauf einen Auftrag von einem Geschäftsinhaber bekommen. Eine kleine feine Sache, die sein Herz erfreue und auch etwas Geld in die Kasse spüle. Seine Frau stand dabei, danach gingen beide weiter ihre Einkaufsliste abarbeiten. Als sie Tags darauf zu Abend aßen, fiel ihnen mit Erschrecken ein: diesen Auftrag hatten sie schon völlig vergessen. Weniger dieTatsache an sich als viel mehr die Anerkennung und der Lob, die darin steckten. Sie wären im Treibsand des Alltags verschütt gegangen. Er habe das schon öfters festgestellt, dass er die positiven Rückmeldungen rein akustisch hört, aber nicht die Gefühle wahrnimmt, die damit verbunden sind: Stolz, Freude oder Selbstvertrauen.
Ich kam in’s Grübeln. Mir sind solche Reaktionen auch bei anderen Menschen aufgefallen. Da bekommen sie ein Lob und scheinen nur chinesisch zu verstehen. Ihr leeres unbewegtes Gesicht drückt aus: „Ich weiß nicht, was du meinst.“ Und auch ich bemerke erste Anzeichen von LWS an mir. Als ich neulich nach einer gelungenen Aktion zu hören bekam: „Du hast heute viele Menschen glücklich gemacht!“ begrub ich das Lob mit der Selbstkritik: „Ich musste aber auch vielen Menschen absagen.“
Ich nenne das Lob-Wahrnehmungs-Störung (LWS-Syndrom).
Eine kurze Selbstdiagnose:
- Haben Sie ein Ohr für Lob und spüren es in sich (Wahrnehmung auf der Gefühlsebene)?
- Hören Sie ein Lob und glauben es (also nehmen es für wahr)?
Ein oder zwei „Nein“ könnten ein Anzeichen für eine Lob-Wahrnehmungs-Störung sein.
Hier Vorschläge für „Medizin“, die das Syndrom zurückdrängen können, bevor es chronisch wird:
- Eine Umarmung, ein Kuss, ein tiefer Blick in die Augen des Lobenden bzw. Ihrer Begleitung. Damit lassen sich unmittelbar Dank und Freude ausdrücken und es ist nicht so verpönt, wie sich selbst auf die Schulter zu klopfen.
- Ein Glas Sekt / Wein zum Anstoßen oder Kaffee und Kuchen zur Feier des Tages. Das verlängert das wohlige Gefühl des Gelobt-Werdens.
- Wenn Sie abends den Tag Revue passieren lassen, schauen Sie doch mal hin, wann und wo sie heute eine positive Rückmeldung bekommen haben, die schon wieder in Vergessenheit geraten war.
Das schärft die Wahrnehmung von Lob in doppeltem Sinn (wahrnehmen und für wahr nehmen).
Vorschau
Bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen werden intimste Geheimnisse offenbar. Ich meine weder den Inhalt des Kulturbeutels noch Wäschedetails, sondern die persönlichen Dinge, die Menschen auf eine Reise mitnehmen. Warum mag wohl ein gestandener Geschäftsmann einen Teddybären in seinem Samsonite Rollkoffer dabei haben? Mehr dazu am 31. März, hier in meinem Blog.
3 Antworten zu “Diagnose: Lob-Wahrnehmungs-Störung”
Hallo Herr Hartmann,
sehr wertvoller Beitrag. Jeder Mensch braucht gelegentlich ein Lob (solange sachlich begründet), auch diejenigen, die nach aussen gerne das über den Dingen stehende Alphatier betonen.
Das LWS ist mir schon öfter begegnet und Ihre Tipps sind prima.
Danke und beste Grüße
Stefan Homeister
[…] Ob die Führungskraft mit einem stimmigen Lob umgehen kann, steht wiederum auf einem anderen Blatt: Denn es scheint eine schwere Krankheit zu geben, die weit verbreitet ist: die Lob-Wahrnehmungs-Störung. Die daran Erkrankten nehmen Lob in einem doppelten Sinne nicht wahr. [Mehr dazu] […]
[…] Siehe auch den Blogbeitrag: „Diagnose: Lob-Wahrnehmungs-Störung“. […]